III. Die Reichsstadt (1254/72 bis 1806)

3. Das mittelalterliche Stadtrecht

Werner Schultheiß *

* Die historische Einleitung zu den Loseblattausgaben des Stadtrechts wurde 1939 ("Die geschichtliche Entwicklung des Nürnberger Ortsrechts"), 1957 und 1972 ("Geschichte des Nürnberger Ortsrechts", 1. und 2. Auflage) von Archivdirektor Dr. jur. Werner Schultheiß besorgt. Sie ist für die Internet-Ausgabe der Jahrtausendwende von Stadtrechtsdirektor Dr. jur. utr. Hartmut Frommer durchgesehen und im Teil IV (seit 1806) neu bearbeitet worden.



Das Recht der Reichsstadt war grundsätzlich nicht kodifiziert, sondern pflanzte sich mündlich von Schöffe zu Schöffe, von Generation zu Generation weiter und wurde erst dann aufgezeichnet, wenn dies notwendig erschien. Ein Gesamtbild läßt sich also nur aus den relativ wenigen allgemeinen Sätzen und Ordnungen der Statutenbücher und aus sehr zahlreichen Einzelfällen rekonstruieren, die in massenhaft erhaltenen Urkunden, Gerichtsbüchern und Akten festgehalten sind. Die strafrechtlichen Amtsbücher setzen am frühesten mit dem Acht- und Stadtverbotsbuch von 1285-1335 ein; diesem folgen weitere Acht-, Verbots-, Fehde- bzw. Urfehdebücher und im 15. Jahrhundert Hader- und Halsgerichtsbücher. Das älteste Verfahrens- und Privatrecht lernen wir zunächst aus Urkunden kennen, durch die sich ab 1240 geistliche Institute den Erwerb von Immobilien sichern. Diesen Brauch ahmen die Bürger nach, die vor allem vor dem Stadtgericht Grundstücks- und Schuldsachen sowie Testamente verbriefen lassen; nach den Klöstern legen sie in der Mitte des 14. Jahrhunderts Besitzverzeichnisse (Sal- und Lehenbücher) an. 1329 werden "Gerichts(wachs?)tafeln", ab 1349 verlorene "Gerichtsbücher", aus denen frühere Gerichtsakte zum Beweis vorgelesen werden, und ab 1377 abhanden gekommene "Bauerngerichtsbücher" erwähnt.

Die Nürnberger Stadtgerichtsbücher im Stadtarchiv

Außer einem Fragment von 1426-1432 sind nur ab 1484 zwei nebeneinander laufende Serien großformatiger Gerichtsbücher mit Immobiliar- und Schuldsachen erhalten. Dazu kommen noch im 16. Jahrhundert Sonderreihen für Bau- und Bauerngericht, Eheverträge, Testamente und Inventuren sowie für einzelne Verfahrensstufen (Protokoll-, Vollmacht- und Urteilsbücher), außerdem förmliche Akten.


Der Vorzug des Stadtrechts vor dem Landrecht lag in der Ausbildung eines von Formstrenge und Schwerfälligkeit losgelösten Prozesses, besonders bei Streitigkeiten mit Gästen, und in der Entfaltung eines der aufkommenden Geldwirtschaft angepaßten Handelsrechts, auf das wir noch eigens zurückkommen werden. Wegen der ihnen von Adeligen verpfändeten Lehen dürfen die Bürger nicht vor einen auswärtigen Lehenhof zitiert werden, aber sie können Landgüter und Grundherrschaften vom Reich, von Fürsten oder Adeligen als Lehen nehmen. Seit 1219 dürfen Bürger nicht mehr zum Zweikampf zwecks Klagentscheidung gefordert werden, wie dies in Flandern üblich war, aber noch 1320 konnten sie Gäste zum Kampf fordern, wenn der Rat die Sache für gerecht befand. Aus der freien Grundleihe entwickelte sich das für Nürnberg typische "Eigengeld"; auch mit Leibrente und Ewiggeld wird das von der Kirche verpönte Zinsnehmen umgangen. In der 1. Hälfte des 14. Jh. ist die Miete von Wohnungen bereits bekannt. Die am Ende des 13. Jh. erwähnte Institution der Salmänner als Treuhänder von Grundstücken wird zwar durch die Beurkundung der Übertragung überholt, schleppt sich aber noch bis etwa 1350 weiter. In die Ehe brachte die Frau außer der Ausstattung einen "Zuschatz" (Heiratsgut) ein; zur Sicherung des Witwenstandes bestellte ihr der Ehemann bzw. dessen Vater einen weiteren "Zuschatz", später "Widergabe" oder "Widerlegung" genannt.

"Versamte Ehe" oder Gütergemeinschaft trat ein, wenn nicht eine "gedingte Ehe" geschlossen wurde. Durch Vertrag konnten die Zuschätze oder das während der Ehe Erworbene als "Einhands-" bzw. Vorbehaltsgüter erklärt oder die Zuschätze nach dem Tode eines Ehegatten dem überlebenden zugesichert werden. Durch Testament und Vermächtnis wurde die gesetzliche Erbfolge modifiziert. Die im Gewerbe des Mannes tätige Ehefrau erhielt eine freiere Rechtsstellung. Hervorhebenswert erscheint eine Vormundschaftsordnung von 1399. Das älteste Privatrecht Nürnbergs bedarf noch sowohl genauerer Analyse als auch zusammenfassender Darstellung. Das Nürnberger Privatrecht zeigt fränkisches Gepräge und ähnelt im allgemeinen dem "Schwabenspiegel", einer privaten, in Augsburg um 1275 verfaßten Aufzeichnung des schwäbisch-süddeutschen Rechts. Von dieser Kodifikation haben sich einige Abschriften des 15. Jahrhunderts aus Nürnberger Stadt- und Klosterbesitz erhalten, ein Zeichen, dass dieses Rechtsbuch hier subsidiär in der Praxis herangezogen wurde. Jedenfalls wurde der Schwabenspiegel in Prag und Hermannstadt (Siebenbürgen) als "Nürnberger Recht" angesprochen.


Im Strafrecht und im Strafprozeß ging wohl die bedeutendste Wandlung des Rechtslebens während des Spätmittelalters vor sich. Die Nürnberger Halsgerichtsordnung, die bisher auf 1294 datiert wurde, aber aus dem erst 1320 angelegten Satzungsbuch III/C stammt, und das Achtbuch von 1285 bis 1335 zeigen nicht mehr das alte Bußenstrafrecht, sondern schon peinliche Strafen wie Hängen, Köpfen, Rädern und Verbrennen sowie die Acht (Recht- und Friedlosigkeit) gegen flüchtige Schwerverbrecher. Außerdem kennt sie das aus den Reichslandfrieden entwickelte "Übersiebnen", bei dem der auf handhafter Tat ergriffene Verbrecher auf Klage des Verletzten mit sechs Eideshelfern verurteilt wird. Da offenbar das an den Burggrafen verpfändete Schultheißenamt und das Stadtgericht beim Überhandnehmen des Verbrechertums versagen, läßt sich der Rat 1320/3 eine konkurrierende Gerichtsbarkeit mit eigenem Richter und Ratsherren als Schöffen gegen die "landschändlichen Leute" und weiterer Erleichterung des Beweises bei "bösem Leumund" verleihen. Kurz danach sind auch Anklage und Ermittlung des Tatbestandes von Amts wegen (Inzichtverfahren) sowie Erzwingung des Geständnisses durch Tortur in Nürnberg nachweisbar. Im Keller des 1340 vollendeten neuen Rathauses befindet sich nämlich eine Folterkammer in den Lochgefängnissen, die bis zum Ende der reichsstädtischen Zeit als Untersuchungshaftanstalt dienten. Der Galgen(„Rabenstein") stand seit dem 16. Jahrhundert südlich des Frauentors. Die im 14. Jh. aufkommenden Freiheitsstrafen wurden auf Stadttürmen (z. B. Männer- und Weiberschuldturm) verbüßt. Die sogenannte "Eiserne Jungfrau" - früher als Folter- und Hinrichtungsinstrument in der Burg ausgestellt und 1945 verbrannt - war nicht echt, sondern die Kopie einer um 1840 von einem auf die Sensationslust der Menschen spekulierenden Antiquar aus einem böhmischen "Schandmantel" für straffällige Frauen entwickelten Konstruktion.

1285 wird sichtbar, dass der Rat die Selbstverurteilung von Bürgern und Fremden zum Verlassen der Stadt auch in Hochgerichtsfällen eingeführt hat. Etwa 1298 entwickelte die Gemeinde aus dem Bruch des Stadtfriedens die Stadtverweisung auf Zeit oder Ewigkeit und verbietet Streunern und Gaunern später vorbeugend auf bloßen Verdacht hin die Stadt. 1349 erhielt die Stadtgemeinde das unbeschränkte Verbannungsrecht.


Kaiser Maximilian I.

Als der über Ruhe und Ordnung der Volksmassen bei seinem Einzug in Nürnberg erstaunte Kaiser Friedrich III. den Losunger Anton I. Tucher nach dem Grund fragte, antwortete dieser „Durch gute Worte und harte Strafen". Beides im Auge zu haben, weist auf eine Tendenz des mittleren Weges hin, die später (mit Ausnahme der Nazizeit) die öffentliche Ordnung der auch heute sichersten Großstadt Deutschlands geprägt hat. Dass der Rat die Härte der Strafen auch seinesgleichen angedeihen ließ, machte die Stadt am 28.02.1496 vor aller Welt deutlich, als der hochberühmte Vorderste Losunger Nikolaus Muffel wegen Amtsunterschlagungen zum Tod verurteilt und noch am selben Tag gehängt wurde.

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