Zwischen Genderstern und Anti-Feminismus

Interview mit Dr. Stevie Schmiedel, Genderforscherin und Aktivistin

Hintergrund

26 Prozent der in Deutschland Lebenden lehnen aktuell eine Gleichstellung von Mann und Frau ab – das sind acht Prozent mehr als noch vor zwei Jahren, wie die Leipziger Autoritarismus-Studie herausfand. Warum das so ist, was dies alles womöglich mit dem Gendersternchen zu tun hat und wie sich die Gesellschaft dennoch weiterhin positiv entwickeln kann, wollte Michelle Fowinkel, stellvertretende Frauenbeauftragte der Stadt Nürnberg, von Stevie Schmiedel wissen. Die Deutsch-Britin ist promovierte Genderforscherin, Autorin und gründete vor mehr als zehn Jahren den eingetragenen Verein „Pinkstinks“.


Die öffentlich ausgelebte Polemik rund ums Gendern ist nur ein Beispiel dafür, wie aufgeheizt Debatten über feministische Themen derzeit sind.

Wie sieht Deiner Meinung nach ein zeitgemäßer Feminismus aus?

Feminismus bedeutet ja erst einmal nur, dass Frauen erkannt haben, dass wir in einem System leben, das Männer privilegiert – und das ist selbstverständlich immer noch so, wenngleich das Patriarchat auch für Männer Nachteile bringt. Aber in der momentanen Situation brauchen wir vor allem Menschen, die sich in die Mitte stellen, um die Diskussion zu entschärfen. Je aggressiver es im Internet wird, desto mehr wächst der Antifeminismus in der gesamten Gesellschaft.

Gelegentlich hört und liest man, wir seien doch alle schon längst gleichberechtigt. Welchen Sinn ergibt in diesem Kontext überhaupt Feminismus?

Gleichberechtigt sind wir natürlich nicht, weder Frauen noch Männer.
Zwar haben Frauen auf den ersten Blick mehr zu gewinnen, wenn sich die Verhältnisse ändern. Aber auch Männer profitieren, denn nicht zuletzt durch ihre gegenwärtige Sozialisation und die damit verbundenen Rollenzuschreibungen leben sie unter Umständen, die dafür sorgen, dass sie im Schnitt fünf Jahre früher sterben als Frauen. Auch Suizid und Sucht sind Themen, die Männer heute weitaus mehr betreffen als Frauen.

Dr. Stevie Meriel Schmiedel, ist Genderforscherin, Autorin und gründete vor über zehn Jahren den Verein Pinkstinks.

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Dr. Stevie Meriel Schmiedel, ist Genderforscherin, Autorin und gründete vor über zehn Jahren den Verein Pinkstinks.

Viele haben die Sorge, dass wir durch den Feminismus auch Dinge verlieren, die wir eigentlich schätzen, bestimmte Rituale zum Beispiel.

Was sagst Du dazu?

Es ist völlig verständlich, dass Menschen sich unwohl fühlen, wenn die Bilder, an die sie sich gewöhnt haben, in Frage gestellt werden. Das erzeugt Angst und dadurch reflexhafte Ablehnung. Deshalb geht es jetzt in der Debatte darum, zu erklären, dass niemand etwas verliert, sondern dass nur etwas Neues hinzukommt.

Dieses Gefühl beherrscht allerdings nicht unbedingt die Diskussionen...

Nein, leider gar nicht. Viele sind genervt davon, dass sie neben allen anderen Dingen, die ohnehin schon schwierig sind – etwa, dass wir vor enormen Herausforderungen wie der Bekämpfung der Klimakrise stehen – jetzt auch noch mit so etwas vermeintlich Unwichtigem wie sprachlichen Ansprüchen konfrontiert werden. Doch es ist eben so, dass Menschen die Welt durch Sprache begreifen, und es wäre unlogisch, wenn viele nicht auch darin vernünftig dargestellt werden wollten.

Warum ist die sprachliche Repräsentation so wichtig? Oder anders gefragt: Ist sie die Konflikte, die sie auslöst, tatsächlich wert?

Als Menschen begreifen wir die Welt durch Sprache – ganz elementar als Konstruktion unserer individuellen Wirklichkeit. Deshalb macht es einen Unterschied, ob Frauen zum Beispiel in einem Text angesprochen werden oder nicht. Das ist definitiv wesentlich. Doch das ist nur die eine Seite, denn auf der anderen Seite darf man nicht vergessen, dass wir in einer Demokratie leben, in der die Mehrheit gegen das Gendern votiert. Damit ist eigentlich klar, dass die Gesellschaft für deutsche Sprache das Gendern (noch) nicht als korrekte Sprachanwendung einordnen darf, da sie die Aufgabe hat, das Sprachverständnis der Mehrheit aufzuzeigen. Die Idee der verbindlichen Sprachanwendung qua Verordnung existiert – glücklicherweise – in Deutschland nicht.

v.l.n.r.: Oberbürgermeister Marcus König, Frauenbeauftragte Hedwig Schouten und Dr. Stevie Schmiedel beim Frauenempfang der Stadt Nürnberg im März 2023

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Oberbürgermeister Marcus König, Frauenbeauftragte Hedwig Schouten und Dr. Stevie Schmiedel beim Frauenempfang der Stadt Nürnberg im März 2023

Wir bei der Stadt Nürnberg versuchen, zielgruppengerecht zu kommunizieren und möchten eine diskriminierungsfreie Sprache verwenden…

Dagegen spricht natürlich nichts, denn die gegenderten Formen existieren ja als Kunstsprache, und soweit ich das sehe, versucht ihr außerdem vor allem, kreativ zu formulieren anstatt alles einfach stur mit Sternchen zu lösen.

In der letzten Zeit ist die Debatte um das Thema in der Öffentlichkeit schwer zu ertragen. Wie hältst Du es denn selbst mit dem Gendern und welchen

Ausweg siehst Du aus der aktuellen Situation?

Ich selbst nutze den Glottisschlag, also die Laut-Lücke etwa vor dem ‚-innen‘, aber nicht konsequent. Man kann auch mal unauffälliger gendern oder ‚eine‘ statt ‚man‘ benutzen. Ich schaue, wen ich vor mir habe, und ob mein Gendern ihn oder sie überfordern könnte. Im Kern geht es, so glaube ich, darum, zu akzeptieren, dass beide Seiten Argumente haben, die gehört werden müssen. So sollte sich die ältere Generation klar machen, dass sie selbst vielleicht auch schon einmal radikaler gedacht hat; die jüngere dagegen sollte Verständnis dafür haben, dass Veränderung Zeit braucht. Jeder muss auch die Gegenseite atmen lassen.

So ein Perspektivwechsel klingt einfacher als er ist, oder?

Nicht unbedingt, aber richtig ist natürlich, dass damit zwei Ängste verbunden sind: Die erste ist, ob ein Feminismus, der auf Verständigung ausgelegt ist, auch noch schlagkräftig genug ist. Die zweite, ob wir in der eigenen Blase vielleicht nicht als feministisch genug gelten. Letzterer Vorwurf kann eine treffen, sollte aber nicht wesentlich sein, denn Fakt ist doch: Wir brauchen eine kluge Strategie, um diejenigen zu erreichen, die in der aktuellen Debatte eher nach rechts tendieren. Und nur laut zu fordern wird die nicht erreichen.

Stevie Schmiedel, Genderforscherin, Autorin und Gründerin der NGO Pinkstinks.

In ihrem aktuellen Buch plädiert Dr. Stevie Schmiedel für einen modernen Feminismus, der Debatten zulässt.

Noch ein Aspekt sind die vielen Krisen, in denen wir uns befinden. Wir erleben den Klimawandel, die mit dem Krieg in der Ukraine einhergehenden

Veränderungen und kämpfen immer noch mit Folgen der Pandemie. Du weißt, worauf ich hinaus will: die Frage, ob es nichts Wichtigeres als diese

Feminismus-Debatten gibt…?

Die Frage ist durchaus verständlich. Aber eben auch die Antwort: Es wird immer etwas geben, das ‘wichtiger’ ist. Aber was bedeutet denn ‚wichtig‘? Für jede und jeden von uns sind das andere Dinge. Wir kümmern uns gerade auch um die Instandsetzung von Straßen, den Beschnitt von Parkbäumen oder die Restaurierung von Kirchen – trotz mannigfaltiger Krisen wie Klimawandel und Krieg in der Ukraine. Letztlich ist das eine Frage von Perspektive und nicht von Problemhierarchie. Für diejenigen Menschen, die gerade diskriminiert werden, ist das möglicherweise viel bedeutsamer als eine globale Krise – wie weitreichend diese auch immer sein mag.

In den Sozialen Medien zählt dies aber alles offenbar nicht, sondern nur die starke Meinung bekommt Aufmerksamkeit. Wie kommen wir aus diesem Dilemma?

Es ist leider tatsächlich nur noch Härte, die aufregt, und mit der man in Social Media etwas zu erreichen scheint. Dadurch besteht kaum noch die Möglichkeit für differenzierte Debatten – schließlich gibt es dafür im Internet keinen ‚Like‘-Button. Meine Lösung sind daher vor allem analoge Gespräche – und längere Texte. Wir müssen dringend wieder Räume und Zeit dafür finden und dorthin gehen, wo es diese Gespräche noch nicht gibt.

Dr. Stevie Schmiedel und Musikerin LNA beim Frauemempfang der Stadt Nürnberg 2023.

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Dr. Stevie Schmiedel und Musikerin LNA beim Frauenempfang der Stadt Nürnberg 2023.

Welche Strategien hast Du für das Sprechen über Feminismus noch parat, die für uns alle hilfreich sein können?

Die Frage ist, wie wir in Frieden über diese Themen sprechen können. Denn eines ist ganz klar: Wenn ein Pferd oder ein Hund nicht auf Kommandos reagiert, nützt es nichts, es oder ihn anbrüllen. Denn dann hast Du ein gestresstes Tier, das niemals etwas von Dir lernen wird. Auch Menschen lernen nicht unter Stress. Natürlich muss es Raum geben für das Radikale und das Wütende, aber es darf nicht dasjenige sein, das den Ton angibt. Es braucht beides: die wütenden Netzwerke, aber auch jene, die Menschen mit einem anderen Ton begegnen, weil sie es können. Weil sie vielleicht Diskriminierung verarbeitet oder nicht direkt selbst erlebt haben, oder einfach wissen: Wut allein reicht nicht aus, ich brauche auch Diplomatie.

Das Verständnis nimmt den Wind aus den Segeln?

Ja, genau darum geht es. Dazu gehört aber auch, dass wir lernen, die vermeintlich falsche Meinung anderer besser auszuhalten. Ich erinnere mich, dass ich mich mit meinem Kfz-Mechaniker über mein Buch und die darin aufgestellten Thesen unterhalten habe. Das war weitaus weniger einfach, als mich in der eigenen Community möglichst konsequent und klar zu zeigen.

Mehr von Dr. Stevie Schmiedel

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